Wer leidet in unserer heutigen Zeit nicht unter ständigem Zeitdruck? Besonders Paaren macht dieser zu schaffen, da zwischen Job, Kindern, Haushalt und Freizeit kaum mehr Raum für die Liebe bleibt. Viele Beziehungen scheitern an chronischem Zeitmangel. In ihrem gemeinsamen Buch „Liebe trotz Zeitnot“ geben die Paartherapeuten Michael Cöllen und Ulla Holm Tipps, wie man trotzdem als Paar glücklich zusammenbleibt. Ein Buchauszug
Kein Weg führt daran vorbei: Das wichtigste Eigenkapital zum Aufbau starker Liebe liegt darin, nicht einfach nur Zeit, sondern intensive Zeit einzusetzen. Ohne Zeit stirbt jede Liebe. Aktiv oder gar proaktiv lieben, heißt aber noch mehr, nämlich das dynamische Entfalten und Gestalten von Liebesglück bewusst, konsequent und zeitgerecht in die eigenen Hände zu nehmen. Reaktive Gestaltung (Viktor Frankl 1946) dagegen, also abwartende, sich anpassende oder gar passive Liebesgestaltung in Abhängigkeit von der jeweiligen Stimmungslage, bringt auf Dauer hohe Verluste an Liebeszeit und Liebeserfüllung. Das kostbare Zeitbudget, das uns heute zur Verfügung steht, gerecht und vor allem im Sinn intensiver Liebe aufzuteilen zwischen Paarzeit, Familienleben, beruflicher Anforderung und persönlicher Neigung, wird immer wieder neu zu einer Herkulesaufgabe.
Oft genug endet das Ringen um diese wichtige Intimzeit mit dem Partner aber auch als Sisyphusarbeit. Viele Paare verzweifeln daran. Worte reichen nicht aus, den resultierenden Frust zu schildern. Einige brechen aus in hilflose Zornattacken, andere in ebenso hilfloses Schluchzen. Viele beginnen dann, den Partner als Gegner zu identifizieren, obwohl sehr viel Druck eigentlich von außen auf das Paar einwirkt. Wir alle müssen letztlich lernen, zusammen mit dem Partner nicht nur an uns selbst zu arbeiten, sondern uns gemeinsam als Paar gegen die von außen diktierte Zeitnot zu wehren.
Nicht mehr der Sturm der Gefühle und der prickelnde Rausch der Sinne wie am Anfang der Beziehung steuern jetzt den Alltag des fortgeschrittenen Paars. Wir überlassen uns nicht mehr den heftigen Gefühlen und vertrauen nicht mehr naiv darauf, glücklich gemacht zu werden. Wir kennen die Risiken der Liebe und haben ihre Schmerzen und traurigen Seiten am eigenen Leib erfahren. Wir haben uns in vielen Streitgesprächen gewappnet gegen Verletzungen, gegen Unrecht und Enttäuschung. Die Routine des Alltags hat Einzug gehalten bis ins gemeinsame Bett und hat uns meist die Höhen und Tiefen der stürmischen Leidenschaft genommen.
Doch genau hier und jetzt beginnt das „Aktive Lieben“! Wir beginnen miteinander ein neues Liebesleben. Das gezielte Bündeln der Zeit richtet sich bewusst auf intensive Begegnung und Berührung – auf „wesentliche Zeit“. Auch im Konflikt miteinander wird Zeitverlust durch destruktiven Streit vermieden und stattdessen konstruktiver Streit mit einer funktionierenden Streitkultur geführt. Dieser Umgang miteinander muss natürlich konsequent erarbeitet werden. Starten Sie mit dem Partner dazu möglichst noch heute einen Test, nämlich einen Selbstversuch. Experimentieren Sie miteinander und probieren Sie sich aus. Es muss nicht gleich gelingen. Auf das Probieren kommt es an.
Selbstversuch: Wesentliche Zeit
Beginnen Sie zunächst (jeder für sich) mit einer schriftlichen Bestandsaufnahme, die gemeinsame Höhepunkte und Tiefpunkte der letzten vier Wochen aufreiht und abwägt. Beide führen Sie sich bewusst den unersetzlichen Wert Ihrer Beziehung vor Augen. Lesen Sie sich gegenseitig Ihre Bestandsaufnahmen vor und besprechen diese. Trauen Sie sich bei diesem Versuch, den destruktiven Umgang miteinander zu erkennen und zu benennen. Bekennen Sie dann dem Partner gegenüber eigene Fehler, statt seine Fehler auszuschlachten. Sie üben so gleichzeitig, den Partner bewusst zu würdigen, statt ihn durch herabsetzende Kritik zu demütigen. Trigger, die beim Partner Sofortkrisen auslösen, werden benannt und nach und nach gestoppt. Trigger sind Reizwörter und Feststellungen, die Alarmglocken schrillen lassen und sofortige Gegenwehr auslösen. Nicht kränkende Anklage, sondern um Verständnis bittende Klage ist jetzt wichtig. So zum Beispiel „Ich bin so angewiesen auf deine Zuverlässigkeit hier in der Familie. Ohne sie gerate ich in Gefühle von Alleingelassensein. Ich brauche dich als Stütze für meine Geborgenheit.“
Diese Bestandsaufnahme dauert etwa vier Wochen. Dazu gehören pro Woche zwei Termine zu je einer Stunde – mit gegenseitigem Vorlesen und Besprechen sowie einer gemeinsamen Abschlussbewertung. Grundlage dieses Procederes ist gegenseitiges Wohlwollen. In dieser Bestandsaufnahme geht es um vorbeugende Auseinandersetzung – in Friedenszeiten. Es wird Rückfälle geben, aber Übung macht den Meister.
Aktives Lieben ist gekennzeichnet vom Wissen um die Verantwortung für das gemeinsame Glück. Dazu gehört besonders das Wissen um die eigenen Altlasten und seelischen Verletzungen, die jeder von uns mitbringt in die Beziehung. Diese werden in der Regel unbewusst, oft sogar unbemerkt von beiden Partnern dem anderen zusätzlich zu seinen eigenen aufgelastet. Ohne aktive Bestandsaufnahme bleiben sie auch weiterhin unbewusst und setzen die innerseelische Zerstörung der Liebe fort. Diese bildet zusammen mit der Zeitnot als externe Zerstörungskraft die Hauptursache aller Partnerkrisen.
Aktives Lieben ist gekennzeichnet vom allmählichen Erwachsenwerden und Beendigen der „kindlichen Streitrituale“. Ziel ist, diese in der Kindheit verwurzelten inneren Kränkungsmuster, die zur unbewussten Sabotage am Liebesglück führen, sowie die aufgezwungenen äußeren Stress-Muster mit dem Partner genau zu identifizieren. Gemeinsam mit und durch den Partner lassen sich die inneren kindlichen Verletzungen durch Trost und gefühlvolle Nachnährung heilen. So wird gegenseitiges Verzeihen und Um- Verzeihung-Bitten für die im Liebesalltag zugefügten Kränkungen möglich. Dann kann auch der Kampf gegen die übermächtige Zeitnot gewonnen werden.
Liebe ist mehr als nur ein Gefühl. Liebe ist vor allem Herausforderung. Soll sie auf Dauer gelingen, fordert sie uns mit Körper, Geist und vor allem mit der Seele. Nichts und niemand auf der Welt fordert uns so vielseitig und umfassend wie der eigene Partner. Lieben heißt, immer wieder für Momente mit jeder Faser unseres Körpers, mit allen Hirnzellen und der ganzen Tiefe unserer seelischen Empfindungen für den anderen präsent zu sein. Kein anderes menschliches Phänomen wirkt so dynamisch wie die Liebe. Fortgesetzte Paar- und Selbstentwicklung stehen deshalb gleichberechtigt nebeneinander, bedingen einander sogar.
Für manchen mag das zu viel verlangt erscheinen, ist es aber nicht wirklich, da „das eigentliche Ziel der Liebe das Werden des Paares ist und nicht die narzisstische Befriedigung der Individuen, aus denen es besteht“, so der berühmte französische Philosoph Alain Badiou (2011). Er nennt das einen „minimalen Kommunismus“ und setzt damit bewusst einen Kontrapunkt gegen den Mainstream von Egomanie und narzisstischer Selbstoptimierung. Das Rigorose an dieser Aussage entspricht nicht ganz unserer Auffassung in der Paarsynthese, setzt aber einen wichtigen Akzent. Liebe meint innere Teilhabe ohne Besitzanspruch – mit voller Verantwortung füreinander, doch ohne Rechtsanspruch. Paarsynthese verkörpert sich im Zusammenwirken der Gegensätze von männlich und weiblich, von zart und hart, von stark und schwach, von Hingabe und Abgrenzung – von Ich und Du.
Können wir als Paar unsere Widersprüche und Gegensätzlichkeiten im Dialog miteinander austragen, erfahren wir Heilung unserer selbst. Damit wird Liebe zum schützenden Raum. Die oft unversöhnlichen Gegenpole von Schwächen und Stärken in dir und in mir werden nicht mehr gegeneinander ausgespielt, sondern ausgesöhnt durch Verstehen, Anvertrauen und Verzeihen. Das können wir auch proaktives Lieben nennen.
Zusammen gestalten wir daraus einen Prozess des Werdens von Selbstfindung und Paarfindung. Von dem Lernen aus deinen und meinen Fehlern, kombiniert mit dem Wachsen und Reifen deiner und meiner Stärken, ernten wir gemeinsam vom Reichtum der Liebe. Das altgriechische „Werde, der du bist“ erweitert sich zum „Werden, wer wir sind“.
Die drei Grundfragen der Philosophie: „Woher kommen wir?“, „Wer sind wir?“, „Wohin gehen wir?“ – mit ihrer besonderen Bedeutung für das Paar bilden folglich den Hintergrund unserer Arbeit. Die Paarsynthese als liebevoll geführter Paarprozess ergänzt diesen Weg mit dem Satz: „Liebe ist der Sinn, Dialog der Weg, Würde das Prinzip.“
Paarsynthese – ein durchaus komplexer Begriff – meint zum einen das intime, intuitiv-spontane Zusammenwirken aller männlichen und weiblichen Kräfte mit dem Ziel, eine sinnerfüllende und lustvolle Lebensgemeinschaft zweier Liebender zu bilden. Zum anderen ist Paarsynthese der Begriff für das aktive Arbeiten und das planende Handeln der Partner – und auch ihrer möglichen Paartherapeuten – für das Gelingen einer glückvollen Dauerbeziehung. Unsere Arbeit als Paartherapeuten mit den ratsuchenden Paaren fußt auf einem paarbezogenem Menschenbild, erarbeitet 1. die Konflikt-Geschichte der individuellen Partnerwerdung, vertieft 2. den Körper-Geist-Seele umfassenden intimen Dialog und bietet 3. für die spirituelle Seite des Paarseins einen schützenden Ort zur gemeinsamen Sinn- und Wertfindung. Die Partner erreichen dadurch die Befreiung von gegenseitigen Kränkungsmechanismen, was wiederum die inneren Kräfte für kreative Selbstentfaltung und lebendige Paargestaltung freisetzt. Ein Teilnehmer einer von uns geleiteten Paargruppe formulierte es für sich so: „Erfüllte Paarbeziehung ist der Schlüssel zum (oder bedeutet sogar) Glück schlechthin.“
Vor der praktischen Umsetzung des „Aktiven Liebens“ stellt dieses Buch für Sie ein Grundwissen über die Liebe voran, das „Lernmodell Liebe“ der Paarsynthese. Den Einstieg zum „Lernmodell Liebe“ bilden die fünf „Bausteine der Liebe“ (ab Seite 24) für den gemeinsamen Arbeitsweg des Paares. Diese geben eine oft wichtige Orientierung im Chaos aufbrandender Gefühle und helfen, die zumeist verwirrende Krisendynamik des Paares erfolgreich neu zu ordnen. Sowohl das konstruktive wie auch das destruktive Zusammenwirken (= Synthese) der beiden Partner im bewussten wie im unbewussten Handeln wird einsichtsvoll und verstehbar. Damit wird es möglich, den paardynamischen Prozess im Labyrinth der gestörten Gefühle und Bedürfnisse durch eine ordnende Struktur neu zu organisieren.
Ergänzend zu den fünf „Bausteinen der Liebe“ werden zur weiteren Vertiefung noch die drei zentralen Schwerpunkte krisenhafter Paarbeziehungen eingeführt, nämlich: der Paarsubstanzkonflikt, die Narzisstische Paardynamik und ihre Kränkungsmechanismen und die Kreative Sinnlichkeit.
Michael Cöllen und Ulla Holm
Liebe trotz Zeitnot
ISBN: 978-3-451-60065-4
Verlag: Verlag Herder