Wo Nähe entsteht, gilt es auch Grenzen zu respektieren. Über Scham und Fremdschämen in Beziehungen und weshalb dieses unangenehme Gefühl sogar gut für uns sein kann
Soweit wir wissen, sind evolutionär nur Menschen in der Lage, Scham zu empfinden. Wir können uns – Stichwort Fremdschämen – sogar für andere schämen, nicht nur für uns selbst. Das ist ein sehr unangenehmes, sehr starkes Empfinden. Scham ist gesellschaftlicher Kitt und sozial und kulturell geprägt, aber auch ganz tief verankert in individuellen Glaubenssätzen.
In Beziehungen, wo wir uns gegenseitig offen und nackt annehmen möchten und spüren wollen, angenommen zu werden, gibt es immer ein Spannungsfeld zwischen Bewahren der Individualität in intimsten Momenten und Hingabe ohne Beschränkungen. Jedes Paar und jeder Partner verhandelt da über das eigene Schamgefühl. Da geht es um Licht im Schlafzimmer, aber auch um die Ungestörtheit im Badezimmer. Nicht zuletzt hat auch die Scham, etwas Falsches zu machen, mit der Entscheidung zu tun, ob ich die Textnachrichten im Smartphones meines Partners heimlich lese.
Beide Partner möchten sich wohl fühlen können. Konflikte entstehen aus dem Gefühl heraus: „Wenn du mich wirklich lieben würdest, würdest du mir meine Privatsphäre lassen“ gegen „Wenn du mir nicht vertrauen kannst, dann ist das keine Liebe“. Es geht weniger darum, ob ein Muttermal peinlich ist oder eine Intimrasur der Fantasie die Luft abschneidet, sondern um Selbstwertgefühl und fallen lassen. Da gibt es kein richtig oder falsch, sondern nur eine Annäherung, die beide Partner glücklich macht.
„Aber du kannst mir doch vertrauen!“ ist die Argumentation des Partners, dem wenig peinlich ist. Für ihn mag das stimmig sein. Doch Scham schützt ja auch den Einzelnen, weil sie verhindert, dass andere ihm zu nahe kommen. Ein schamloser Partner kann beim Anderen das Gefühl erzeugen, ihm hilflos ausgeliefert zu sein.
Schamgefühle zeigen sich in ziemlich deutlichen körperlichen Signalen. Das macht die Scham so schlimm, denn jeder kann sie sehen an dem hochroten Kopf, dem Schweißfilm auf der Haut und der Körperhaltung. Wir fühlen uns mies und zeigen das auch noch. Scham kann zu Angststörungen, zu Schuldgefühlen und Aggression führen. „Stell dich nicht so an!“ ist ein Satz, den man besser aus den Gedanken raushält, denn er macht es garantiert nicht besser, sondern schlechter.
Scham an sich ist eine gute Sache, einerseits um Grenzen einzuhalten und andererseits um sich selbst sicher zu fühlen. Das sollte sich jeder Partner bewusst machen. Besonders in der Sexualität birgt das Konfliktpotential. Ein erfülltes Liebesleben braucht Abwechslung und das Ausleben von Fantasien. Das erfordert den Mut, die Komfortzone des gewohnten kleinsten gemeinsamen Nenners zu verlassen. Das sollte jedoch freiwillig und in einer sicher anmutenden Atmosphäre geschehen. Je nach individueller Prägung ist das überrascht werden beim Spiel mit sich selbst eine tolle Fantasie oder ein brutales Eindringen in die Intimsphäre.
Die Partner sollten so ehrlich miteinander umgehen, dass sie ihre individuellen Schamgrenzen benennen und verhandeln können. Was dem einen peinlich ist, muss dem anderen nicht peinlich sein. Aber diese Grenze sollte man auch dann akzeptieren, wenn die eigene ganz anders ist. Voraussetzung für das Ausverhandeln und auch Ausweiten von Schamgrenzen ist gegenseitige Achtsamkeit, das Gefühl, begehrt zu werden und nicht selbstverständlich zu sein – also alles, was die Stärkung des Selbstbewusstseins fördert.