Die Situation kennt jeder Mann. Die Ursachen tief in der menschlichen Stammesgeschichte allerdings nicht. Eine Dosis Evolutionspsychologie für den Alltag
Diese Situation kennen alle Männer: Es sind noch 30 Minuten, dann sollten Sie in den Bus oder die Bahn steigen, um pünktlich zur Tisch-Reservierung, dem Kino oder der Party zu kommen. Aber Ihre Partnerin erlebt gerade eine Panik-Attacke vor dem Kleiderschrank, weil nichts passen will oder Sie sich in nichts wirklich wohlfühlt. Also stellt Sie Ihnen die Frage, die Sie nach Lesen dieses Artikels endlich richtig beantworten können: “Bin ich in diesem Outfit zu dick?”
Sie wissen: Der Abend steht jetzt auf der Kippe. Ihre Partnerin sucht Ihre Unterstützung. Und vermutlich wissen Sie nicht, weshalb. Was ist jetzt anders als heute Morgen, als Sie ihr ein Kompliment gemacht haben? Was hat sich verändert seit der leidenschaftlichen Nacht gestern?
Lassen Sie uns zum Verständnis einen Ausflug in die stammesgeschichtliche Vergangenheit machen. Danach wird Ihnen vieles klarer sein.
Frauen SIND ihr Körper
Männer hingegen sehen ihren Körper als ein Werkzeug an und viele tausend Jahre war das auch so. Da gab es noch keine Fahrzeuge und ob die Jagd erfolgreich werden würde, entschieden Muskeln, Ausdauer und Geschick. Dinge, die sich trainieren lassen. Ein Körper soll funktionieren, das erlebten Männer früher. Heute fühlen sich viele Männer in ihrer Arbeit nicht sonderlich anders. Sie sollen funktionieren, Mann und Körper definieren sich durch ihren Nutzwert.
Frauen dagegen erleben ihren Wert ganz früh bereits definiert durch ihr Aussehen. In “The Man’s Guide to Women” zeigen Professor John Gottman und seine Ehefrau Julie Schwartz auf, dass eine Frau in der westlichen Welt heute 400 bis 600 Werbeanzeigen pro Tag sieht. Mindestens eine von elf Anzeigen beinhaltet eine Aussage, wie eine attraktive, erfolgreiche und glückliche Frau aussehen sollte. Mit 60 hat sie etwa sechs Millionen solcher Anzeigen betrachtet und es braucht wenig Vorstellungsvermögen, dass sich diese Aussage da längst in ihrem Gehirn fest verdrahtet hat. Das Problem dabei: Es ist unmöglich, diesem kontrollierten und optimierten Standard zu entsprechen. Nicht einmal die Models sehen so aus wie auf ihren Bildern.
Die Aufmerksamkeit der Männer
Das männliche Sexualhormon Testosteron ist direkt mit dem männlichen Sehnerv verdrahtet. Attraktivität und sexuelle Anziehung gehen deswegen so eng zusammen. Nun glauben die meisten Männer zwar, sie müssten für Flirt oder Kontakt den ersten Schritt unternehmen, doch in Wirklichkeit erledigen den die Frauen für sie. Subtil mit einem Blick, einem Lächeln, mit ihrer Körpersprache – wer die weibliche, nonverbale Kommunikation deuten kann, weiß, wann er auf eine Frau zugehen sollte. Und wann er nicht die Spur einer Chance hat! Damit der Mann die Frau wahrnimmt, genügt eben ein visueller Reiz. In vielen tausend Jahren hat die Mode Frauen hierfür fantasievolle Möglichkeiten (und Zwänge) geschaffen. Sie reichen von der Frisur über das MakeUp bis in zu Kleid und Schuhen – und natürlich Handtaschen.
Schönheit ist für Frauen eine Überlebensstrategie, um aufzufallen, um bemerkt und um umworben zu werden. Jetzt stellt sich ihr nur noch die Frage: Umworben von wem?
Entsprechend des Outfits wird eine Frau völlig unterschiedlich wahrgenommen. Männer mit ihren eingeschränkten Möglichkeiten zwischen Jeans, T-Shirt und Anzug erleben das nicht so. Außer Sie geben alles, dann werden sie als Fashion-Victims ins Lächerliche gezogen. Ob eine Frau hohe Stiefel oder Turnschuhe trägt, verändert komplett, wie ihre Umwelt mit ihr interagiert. Und liebe Männer, das erlebt sie so, seit sie ein kleines Mädchen ist und das hat sie geprägt.
Die Bedeutung der Auswahl
Das Folgende klingt weit hergeholt, aber als Modell taugt diese Theorie der Evolutionspsychologen gut zum Verständnis für die Entscheidungsprozesse, die eine Frau durchmacht, wenn sie vor ihrem Kleiderschrank steht. Dazu kurz zurück in die Steppe, als Menschen in kleinen Gruppen lebten. Die Männer waren auf der Jagd, die Frauen kümmerten sich um das Sammeln von pflanzlicher Nahrung. Sammeln ist nicht wie Jagd oder Anbau zielgerichtet. Sammeln bedeutet, die Umgebung zu scannen ohne zu wissen, was sich am Ende lohnenswert erweisen würde. Ein zufällig gefundener Strauch Himbeeren beispielsweise. Es lag immer in der Verantwortung der Frauen, ob die Beeren lecker und gesund wären – oder ob die Familie an einer Vergiftung sterben würde. Kein Wunder, dass Frauen Farben unterscheiden können, die für Männer reichlich gleich aussehen. Kein Wunder, dass Frauen tatsächlich wissen, was sich in ihrem Schrank verbirgt und welches Teil wozu kombiniert werden könnte.
Für Frauen ist Shopping eine moderne Version des Sammelns und kann ohne konkretes Ziel Stunden um Stunden verfolgt werden. Männer jagen dagegen einen Anzug, weil sie eben einen jetzt neuen Anzug benötigen. Frauen dagegen finden etwas, von dem sie zuvor nicht wussten, ob sie es brauchen können und das benötigt Sorgfalt, Achtsamkeit und Zeit.
eine lebensnotwendige Entscheidung
Damit zurück an den Kleiderschrank. Wir wissen nun: Wie ihre Umwelt mit Frauen agiert, hat viel mit dem Äußeren zu tun. Wir wissen auch, dass die richtige Auswahl stammesgeschichtlich überlebenswichtig war. Natürlich läuft das so nicht bewusst ab, aber wenn wir bei dem Modell bleiben wollen, dann trifft das Gehirn Ihrer Partnerin 30 Minuten vor der Reservierung gerade eine lebensnotwendige Entscheidung. Also zumindest kommt es ihrem Unterbewusstsein so vor.
Die einzig richtige Antwort
“Bin ich in diesem Outfit zu dick?”, ist ein Schrei nach Hilfe. Uralte Programme kämpfen – und die sind alle überaus mächtiger als männliche Ungeduld. Sie können den Abend abhaken, wenn Sie glauben, Sie als Jäger (“Oh, ein Hirsch!”) könnten es mit der Speicherkapazität einer Sammlerin aufnehmen und sagen: “Dann zieh doch das grüne Kleid an, in dem du letzten Monat bei Monika warst.” Erstens ist das eine Woche her, zweitens war das ein Mädels-Abend und welches der drei grünen Kleider meinen Sie?
Wenn Sie denn noch ins Kino oder ins Restaurant wollen, dann sagen Sie:
“Du siehst schön aus, egal was du anziehst”
Ja, ich weiß. Sie denken sich: Ernsthaft? Das war es?
Nein, war es nicht.
Denn damit Ihre Partnerin Ihnen das glauben kann, müssen Sie täglich beweisen, dass Sie das genau so meinen.
Sie muss an Ihren Blicken, an Ihren Berührungen und an Ihrem Verhalten spüren, dass es genau so ist: Dass sie schön und begehrenswert ist. Dass sie liebenswert und liebenswürdig ist.
Das ist zugegeben aufwendiger als eine knappe Antwort. Aber so leicht hat es uns die Evolution leider nicht gemacht.