Was Beziehungsfähigkeit ausmacht

Wie beziehungsfähig sind wir eigentlich? Autorin Vivian Dittmar erörtert im ersten von zwei Gastbeiträgen, warum manche Menschen beziehungsunfähig sind und wie sie das ändern können

Teil 1: Konflikte als Chance begreifen

Steigende Scheidungsraten, Probleme in Patchworkfamilien und omnipräsente Beziehungskrisen — das ewige Gejammer über die Lage der Nation in Beziehungsdingen kann einem manchmal so richtig auf die Nerven gehen. Dennoch lässt es sich nicht leugnen, dass heute alles anders ist als früher, als die Welt angeblich noch in Ordnung war. Wir haben heute Probleme in unseren Beziehungen, von denen unsere Vorfahren nur träumen konnten. Das mag sich zynisch anhören, ist aber ganz ernst gemeint. Sie konnten es sich gar nicht leisten, sich so in die Haare zu bekommen, wie wir uns das inzwischen genehmigen.

Doch woran liegt das? Und vor allem: Was haben wir davon? Beginnen wir mit der ersten Frage.

Als die Welt noch in Ordnung war

Früher — es ist eigentlich gar nicht so lange her — waren Beziehungen komplett anders strukturiert als heute. In jeder Beziehung, in der Menschen existentiell aufeinander angewiesen waren, gab es eine klar vorgegebene, nicht antastbare Hierarchie. In Paarbeziehungen war dies natürlich die berühmte Unterordnung der Frau, die dem Mann eine uneingeschränkte Vormachtstellung und Autorität einräumte. So sehr wir dieses Modell heute ablehnen, hatte es doch Vorteile, die nicht von der Hand zu weisen sind. Der größte Vorteil bestand darin, dass im Konfliktfall klar geregelt war, wer das Sagen hat. Den Verlust dieses Vorteils bekommen wir heute in vielen Beziehungen in Form von zermürbenden Machtkämpfen zu spüren. Ein weiterer Vorteil bestand darin, dass der hierarchisch höher Gestellte beim anderen seine emotionalen Ladungen einfach mal rauslassen konnte. Die Frau ließ diese dann oft an den Kindern aus, die sich wiederum einen jeweils kleineren vorknöpften, um auch mal Dampf abzulassen.

Ein neues Ideal

So betrachtet, zerbröckelt unser Bild von der schönen Idylle recht schnell und es ist kaum verwunderlich, dass wir heute ein anderes Beziehungsideal haben. Wir wollen gleichberechtigte Beziehungen. Wir wollen einander auf Augenhöhe begegnen. Wir wollen echte Partnerschaften, das ist sonnenklar.

Die Sache hat nur einen kleinen Haken: Wir wissen nicht, wie dies geht. Mit anderen Worten:

Wir sind tatsächlich nicht beziehungsfähig.

Woher sollten wir es auch sein? Von wem hätten wir es denn lernen sollen?

Das zuvor beschriebene Beziehungsmodell funktionierte, streng genommen, ohne Beziehungsfähigkeit. Es basiert auf Macht, nicht auf Kooperation, sowohl was Konfliktfähigkeit als auch was emotionale Kompetenz betrifft. Hier zählten Durchsetzungsvermögen und Unterordnung, die gemäß den jeweiligen Geschlechterrollen den Jungen und Mädchen auch vermittelt wurden.

Die Herausforderung heute

Durchsetzungsvermögen und Unterordnung sind in Beziehungen heute nur von begrenztem Nutzen. Durchsetzungsvermögen allein führt unweigerlich zu Machtkämpfen, während Unterordnung sich früher oder später rächt, wenn alle verdrängten Bedürfnisse sich einen Weg an die Oberfläche bahnen. Doch wie gehen wir dann gut mit Konflikten um?

Heute sind wir gefordert, für uns selbst und unsere Bedürfnisse einzustehen, ohne die des anderen zu missachten. Das ist natürlich kein Problem, so lange das, was ich möchte und das, was mein Partner möchte, zusammenpasst. Im Rausch der ersten Verliebtheit ist das zum Beispiel fast ständig der Fall. Doch wie sieht es aus, wenn das nicht mehr so ist? Sind wir dann fähig, einander zu respektieren und gemeinsam eine Lösung zu finden, die für beide funktioniert? Die Antwort auf diese Fragen entscheidet darüber, ob eine Beziehung einen gesunden Boden hat oder Konflikte sie in absehbarer Zeit in einen Scherbenhaufen verwandeln werden.

Was es jetzt zu lernen gilt

Zwei sich widersprechende Bedürfnisse zugleich zu respektieren, ist eine Herausforderung. Die meisten Menschen stellen daher entweder die eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund oder die des Partners. Im ersten Fall nehmen sie zu wenig Rücksicht auf das, was der andere möchte, im zweiten Fall bleiben sie selbst auf der Strecke.

Damit ein Miteinander auf Augenhöhe gelingen kann, müssen wir lernen, auch widersprüchliche Bedürfnisse gleichermaßen zu würdigen. Menschen, die dazu neigen, sich selbst unterzuordnen sind also gefordert, mehr für die eigenen Bedürfnisse einzustehen. Tun sie das nicht, wird sich das früher oder später rächen. Umgekehrt sind Menschen, die zu wenig auf andere Rücksicht nehmen am Zug, den Bedürfnisse anderer Gehör zu schenken. Gelingt das nicht, wird auch das sich über kurz oder lang rächen.

Erst wenn diese Gleichzeitigkeit der eigenen Bedürfnisse und die des anderen auch in Konfliktsituationen gelingt, können gemeinsame Lösungen entwickelt werden. Ich nenne diese Lösungen auch gerne „verbindende Lösungen“. Sie unterscheiden sich von Kompromissen darin, dass sie tatsächlich die Bedürfnisse aller bestmöglich berücksichtigen, statt den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden.

Worum es eigentlich geht

Damit das gelingen kann, braucht es einen Perspektivenwechsel. So seltsam es klingen mag: Viele Paare sprechen in Konfliktsituationen nicht offen über ihre wirklichen Bedürfnisse. Stattdessen konzentrieren sie sich darauf, eine bestimmte Vorstellung durchzusetzen. Das kann zum Beispiel die Vorstellung sein, heute einen gemütlichen Abend zuhause zu verbringen. Eine nette Idee — wenn mein Partner nicht darauf bestehen würde, tanzen zu gehen!

Hinter den jeweiligen Vorstellungen kann sich eine Vielzahl von Bedürfnissen verbergen. Bei dem Abend zuhause kann es das Bedürfnis nach Erholung, nach Zweisamkeit, nach Zärtlichkeit, nach einem ungestörten Gesprächsraum und vieles mehr sein. Bei dem Wunsch, Tanzen zu gehen, kann es zum Beispiel das Bedürfnis nach Bewegung, nach Geselligkeit, nach Abwechslung und noch vieles mehr sein.

In einer klassisch hierarchischen Situation würde einfach einer bestimmen, was gemacht wird und der andere sich unterordnen. In einer gleichberechtigten Beziehung fehlt uns diese Option. Wenn es uns gelingt, in solchen Situationen über unsere tatsächlichen Bedürfnisse zu sprechen, die hinter einer bestimmten Vorstellung stecken, dann haben wir gute Chancen, eine gemeinsame Lösung zu finden. Wie obige Auflistung zeigt, gibt es je nach tatsächlichem Bedürfnis, das sich bei mir oder meinem Partner verbirgt, eine Vielzahl möglicher Lösungen für genau dieses Bedürfnis. Es muss nicht der Abend zuhause oder das Tanzen sein. Die jeweilige Vorstellung, die wir geäußert haben, ist nur eine dieser vielen möglichen Lösungen.

Viele Konflikte sind gar keine

Bei vielen Paaren entstehen unnötige Konflikte, da sie sich zu früh darauf verlegen, die eigene Vorstellung zu verteidigen oder die des anderen angreifen. Sätze wie: „Jetzt waren wir doch schon gestern zuhause!” oder: „Immer willst du tanzen gehen!” tragen in keiner Weise zu einer Konfliktklärung bei und sagen dem Partner, dass wir seine Bedürfnisse nicht respektieren. Eigentlich haben wir nur Angst, dass unsere eigenen Bedürfnisse zu kurz kommen.

Das mag zwar bei einem Beispiel wie dem von mir angeführten banal erscheinen. Doch wenn es uns bei den kleinen Konflikten nicht gelingt, kooperative Lösungen zu finden, wie soll es dann bei den großen Themen gelingen, bei denen Paare aufeinanderprallen?

Mit etwas Übung können die allermeisten Konflikte gelöst oder sogar aufgelöst werden, indem auf die tatsächlichen Bedürfnisse geschaut wird. Wenn wir erst bemerkt haben, wie viele mögliche Lösungen es für das Bedürfnis nach einem intimen Gesprächsraum, nach Zärtlichkeit, nach Bewegung oder nach Geselligkeit gibt, dann stellen wir schon bald fest, dass es in sehr vielen Fällen zwei Lösungen gibt, die in keiner Weise einen Konflikt darstellen.

Ein neues Miteinander

Nun können wir uns der zweiten Frage zuwenden: Wofür ist das alles gut? Wir haben heute die Möglichkeit, wesentlich erfüllendere Beziehungen zu gestalten, als dies früher der Fall war. Wenn wir bereit sind, an unserer Beziehungsfähigkeit zu arbeiten und altes Konfliktverhalten — sowohl jene der Unterordnung als auch jene der Durchsetzung — zu hinterfragen, kann ein ganz neues Miteinander entstehen. Es basiert auf Respekt und Wertschätzung, statt auf Dominanz und Unterordnung. Es ist getragen von dem tiefen Vertrauen, dass die Bedürfnisse aller gewürdigt werden. Es ist genau jene Art Beziehung, von der wir träumen.

Der Weg dorthin ist kein einfacher, denn die alten Gewohnheiten sitzen tief. Nur wenn beide Partner bereit sind, einen fairen Weg miteinander zu gehen, kann es gelingen. Doch es lohnt sich, denn eine gesunde Partnerschaft ist einer der wichtigsten Faktoren für Glück. Es liegt an jedem von uns, ob wir bereit sind, die entsprechenden Hausaufgaben zu machen.

 

Beziehungsweise – Beziehung kann man lernen

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